Zum Haareraufen

Gehört nicht zur Reifung der Persönlichkeit auch das Fegefeuer der Erinnerung an all die peinlichen Situationen, in die man sich gebracht hat?  sowohl an die, die schon damals beschämend waren, wie an solche, die sich erst im Nachhinein als Torheiten erwiesen haben?

“Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut . . .“

.Mögen auch die Bauzeiten objektiv erheblich länger dauern, subjektiv wirken die Neubauten im Frankfurter Stadtkern, wie wenn jeden Monat Neues aus dem Boden gestampft würde.  Und mehr als sonst werden Gebäudekomplexe und Fassaden niedergerissen, die zwar nicht durch architektonische Schönheit aufgefallen waren, aber über viele Jahre als Teil des vertrauten Stadtbilds zur Orientierung beitrugen.

Jetzt gähnen plötzlich riesige Löcher in den gewohnten Straßenfronten, wo lärmend  die Bagger  herumfuhrwerken.

…………(in unmittelbarer Nähe der Hauptwache)

Und während man an anderer Stelle Disney-artig auf Altstadt machen will, beginnt über den Dächern manch seltsamer Anblick das neue Stadtbild zu prägen.

 

………………(wie sie sich krümmen, die Hochhäuser!)

Gedankensplitter

Irgendwo las ich, jemandes Dasein sei bloß in einem Halbsatz erwähnt worden. Jetzt überlege ich, wie meine Existenz in einem Halbsatz untergebracht werden könnte.

Wäre doch gar nicht so schlecht, als Nebensatz in einer Fußnote noch eine Weile in Erinnerung zu bleiben –  besser jedenfalls, als was den Menschen normalerweise beschieden ist.

 

 

Vernissage bei Galerie en passant*

Bilder und Zeichnungen von Kadie Schmidt-Hackenberg

 

 

 

 

 

 

 

Onlooker, 2011, digitaler Pigmentdruck, 100 x 177 cm

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein weiteres Werk aus der Serie Sightseeing

Durch raffinierte Verfremdung realer Architekturen und ihre Einbindung in geheimnisvolle Farbräume entstehen Bilder, die wie Verlockungen zu Traumreisen anmuten, wären da nicht auch die seltsam unbeholfenen Gestalten, die eine Art Kontrapunkt zu dem Farbzauber bilden. Sind es rat- und orientierungslose Touristen, die dem  Geheimnis und Zauber am Zielort der Reise nicht gewachsen sind? Oder stehen sie bloß als bettelnde Flüchtlinge vor der unfassbaren Bildungspracht?

Jedenfalls sind diese “Besucher“ ein wichtiges Element in den großen Tafelbildern, was sich angesichts der Zeichnungen bestätigt, in denen solche Figuren ihr phantastisch skurriles Eigenleben führen.

Fazit: Endlich wieder eine Ausstellung, in der nicht gezeigt wird, was man in der einen oder anderen Form woanders schon gesehen hat.

*) Brunnenstraße 169, 10119 Berlin, bis 28. April

Lesefrucht

Johannes Poethen

Ich geh in keine moschee
sagte der dichter aus irland
mir stahlen sie da die schuh

in notre dame dem dichter claudel
kam die seele abhanden
hinfort schrieb er katholisch 

ob sies wohl annahmen
dies diebesgut
jesus die seele und allah die schuh.


Beim Blättern in einem Verlagsalmanach
stieß ich auf diese heiter–unbeschwerten Verse,
in denen jemand über Freiheit nachdenkt
und über die Möglichkeiten eines innengeleiteten Lebens.
Hoffentlich wird es bei uns nie gefährlich werden,
ein solches Gedicht zu besitzen, zu verbreiten oder gar öffentlich vorzutragen.

 

Merkbuchseite

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

(Farbstifte)

Impromptu: der Ausdruck wird zwar zunächst nur für gewisse romantische Klavierstücke verwendet; aber da er nichts anderes meint, als dass da etwas aus dem Stegreif entstanden ist (oder wie aus dem Stegreif entstanden wirken soll), darf man ihn vielleicht auch für ein Gebilde verwenden, das in seinem Aufbau einer musikalischen Komposition durchaus verwandt ist.

Unvorhersehbare Lernwege

Ein bekannter Verleger hat neulich in einem Interview* berichtet, wie sehr er die Musik von Thelonious Monk schätzt und wie er ihr zum ersten Mal begegnet ist: “. . .wir hatten einen grauenvollen Musiklehrer, der irgendwann einmal diese Musik mitbrachte, die mich sofort gefangen nahm . . .“

Nun wissen wir natürlich nicht, wie “grauenvoll“ der Musiklehrer wirklich war; aber ist es nicht eigentlich egal, ob der ehemalige Schüler es dem Lehrer dankt oder nicht, wenn ihm wenigstens das weitergereicht wurde, was ihn auch noch nach vielen Jahren hat bewegen können?

Wer wüsste schon zu sagen, wo und wie die Körner aufgehen, die ein Pädagoge ausstreut? Auch ich kann nur hoffen, dass ich trotz meiner Macken manches habe weiterreichen können, was bei ehemaligen Schülerinnen und Schülern einen (verspäteten) Nachhall gefunden hat.

*) Friedbert Stohner im hr2 Doppelkopf am 2.4.12

 

Facebook-Freunde?

Beschämt muss ich immer wieder feststellen, wie wenig Zuwendung ich für die kleine Gruppe von Menschen aufbringe, denen ich mich durch gemeinsame Lebensumstände enger verbunden fühle, deren berechtigten Anspruch auf meine Aufmerksamkeit und Zeit ich nie hinreichend erfüllen kann.

Wie also mögen sich die zwischenmenschlichen Beziehungen gestalten, wenn jemand bei Facebook stolz verkündet, 150  oder noch mehr Freunde zu haben?