Im Schatten des Jubels

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Was ist der Mensch – die Nacht vielleicht geschlafen,
doch vom Rasieren wieder schon so müd,
noch eh ihn Post und Telefone trafen,
ist die Substanz schon leer und ausgeglüht,
ein höheres, ein allgemeines Wirken,
von dem man hört und manches Mal auch ahnt,
versagt sich vielen leiblichen Bezirken,
verfehlte Kräfte, tragisch angebahnt:

Man sage nicht, der Geist kann es erreichen,
er gibt nur manchmal kurzbelichtet Zeichen.

Nicht im entferntesten ist das zu deuten,
als ob der Schöpfer ohne Seele war,
er fragt nur nicht so einzeln nach den Leuten,
nach ihren Klagen, Krebsen, Haut und Haar,
er wob sie aus Verschiedenem zusammen,
das er auch noch für andere Sterne braucht,
er gab uns Mittel, selbst uns zu entflammen
– labil, stabil, labil – man träumt, man taucht:

Schon eine Pille nimmt dich auf den Arm
und macht das Trübe hell, das Kalte warm

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(aus MELANCHOLIE von Gottfried Benn)

Beim Aussortieren von Büchern

Weil die Trennung von Büchern, die jahrelang auf meinen Regalen gestanden haben, nicht leicht fällt, werfe ich immer wieder wenigstens noch letzte Blicke in die Opferkandidaten.

Enttäuschung kann dabei das Wiederlesen längst abgelegter Bücher bereiten: ich muss dann eben einsehen, dass ich einem Text inzwischen “geistig entwachsen“ bin. Also weg damit.

Umgekehrt aber gibt es auch das angenehme Erstaunen, wenn ich ganz unerwartet von einem früh beiseite gelegten Text angerührt werde und Gedanken verstehe, für die ich beim Einkauf noch nicht reif gewesen war. Also Vorsicht!

Gedankensplitter

Wer in einer Sprache angeredet wird, die er/sie nicht gelernt hat, kann nicht wissen, ob das Gesagte bedeutsam oder sinnfrei ist.

In eben dieser Situation befinden sich die meisten beim Betrachten von Bildern und beim Hören von Musik, wenn diese (Bilder wie Musik) nicht hinreichend “vorgekostet“ worden sind.

Merkbuchseite

41215

(Tusche u. Farbstifte)

Durch glückliche Umstände gab es Gelegenheit, Timm Ulrichs live zu begegnen – ein Abend lang Rückblick auf das Leben eines Feuerkopfs und ästhetischen Rebellen mit nie versiegendem Einfallsreichtum – ihm sind so viele phantastische Projekte gelungen, die weithin Aufsehen erregt haben und seine Rolle als originellen Anreger belegen – seine Anregungen sind zwar vielfach aufgegriffen und genutzt worden, ohne dass aber dadurch der Name des Künstlers angemessen bekannt geworden wäre – begeisterte Anhänger seiner Kunst finden sich vermutlich vor allem in einem anspruchsvollen Teil des Publikums, der eher off-mainstream orientiert ist.