Sehenswerte Fotoausstellung

Am 22. Januar wurde im Neuen Rathaus, Wetzlar, eine Ausstellung mit Arbeiten der Gruppe gleis3eck eröffnet.

Zur Einführung habe ich mir Gedanken zur Photographie als Kunst gemacht:

Die Photographie, so könnte man denken, ist längst “ganz oben“ angekommen, soll heißen: Fotos werden in Kunstgalerien zu hohen Preisen gehandelt, bei Versteigerungen werden mit Fotos ganz unerhörte Preise erzielt, und Fotos finden sich völlig selbstverständlich in den Sammlungen großer Kunstmuseen.

Trotzdem: man sieht es selten, dass Fotos gleichrangig zwischen Gemälden und Zeichnungen hängen. Man spürt, dass auch die Museumsleute bei der Einreihung von Fotos unter die Exponate eine gewisse Vorsicht walten lassen. Es ist, als ob das alte Vorurteil noch immer nachwirke, wonach Photographie etwas anderes sei als Kunst.

Welche Photographie? muss man da sogleich fragen, denn nur ein winziger Teil der weltweit unüberschaubar riesigen Fotoproduktion kommt für unsere Überlegungen in Frage: wir wollen uns hier ausschließlich mit solchen Fotoarbeiten befassen, die in einem künstlerischen Gestaltungsprozess entstanden sind.

Und was heißt das?

Ein Kunstwerk ist der geformte Ausdruck einer inneren Ordnung des Schaffenden

– anders gesagt: etwas Geistiges nimmt im Werk sinnlich erfahrbare Gestalt an.

Dies lässt sich an Rembrandts Nachtwache eben so zeigen wie an Malewitschs Schwazem Quadrat. Und schon, wenn ein Kind nur eine Ente auf einem Teich malt, vollzieht sich diese Umsetzung einer inneren Vorstellung in sichtbare Zeichen auf dem Papier.

Das, was ich hier innere Ordnung nenne, kann man vielleicht wie eine geistige Blaupause verstehen, nach der sich die Gestaltung des Kunstwerks richtet. Was gemeint ist, hat in unübertrefflicher Weise Caspar David Friedrich in eine Regel gefasst:

“Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch, was er in sich sieht. Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht.“

Wenn man Malen durch Ablichten ersetzt, gilt die Regel auch für Photographen:

“. . . Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er auch abzulichten, was er vor sich sieht.“

Unkundige würden jetzt wohl einwenden: Photographie kann doch nur das ablichten, was schon sichtbar vorhanden ist; wie soll denn da etwas “künstlerisch gestaltet“ werden?

Aber selbst die, die so fragen, glauben nicht ernstlich, dass Photographen das Ablichten dem Zufall und der Automatik überlassen. Vielmehr gibt es, angefangen von der Suche nach einem bestimmten Motiv und dem Griff zur Kamera bis hin zur Präsentation eines gelungenen Ergebnisses, eine Kette von technischen und ästhetischen Entscheidungen, die bei jeder Ablichtung getroffen werden müssen. Und je nach Charakter, Begabung und Erfahrung sehen die Fotos des einen anders aus als die der anderen.

Gewiss: manchem Gelingen kommen besonders glückliche Umstände zu Hilfe; aber in der Fähigkeit, solche Umstände im rechten Moment zu nutzen, sind die Menschen eben so verschieden wie der jeweilige Grad ihrer Erwartungshaltung und ihrer inneren Gespanntheit.

So kommt es also zu dem, was wir beim Betrachten den Ausdruck nennen, ein Ausdruck, der ohne Worte, aber durch deutbare Zeichen zu uns spricht. Dass wir diesen Ausdruck überhaupt wahrnehmen, ist Beweis genug für die künstlerische Gestaltungsfähigkeit mit den Mitteln der Photographie.

 

Den manifestartigen Internetauftritt der Gruppe findet man,
wenn man www.gleis3eck-fotoprojekte.de eingibt

“Über Nebenwirkungen informiert Ihr Arzt oder Apotheker“

Wie wunderschön, dass es im Gegensatz zu früheren, dürftigen Verhältnissen inzwischen jede Menge Bilderbücher für Kinder gibt; die unübersehbare Zahl der jährlich neu erscheinenden Editionen umfasst neben allerlei einfältigem Zeug so viele phantasievolle, traumhaft schön illustrierte Werke, dass man sie auch als Erwachsener am liebsten alle sammeln würde.

Ein Effekt dieses Reichtums – jedem Kind sein besonderes Bilderbuch – ist allerdings, dass das Verbindende einer gemeinsamen Erinnerung verloren geht, wie sie etwa noch durch Asterix & O. oder auch zuvor durch Struwwelpeter oder Max & Moritz geprägt wurde.

Ein ähnlich zersplitternder Effekt ist von dem neuen Angebot der Post zu erwarten: man wählt sich ein Bildmotiv, z.B. ein gutes Portraitphoto, und erhält gegen ein entsprechendes Aufgeld das personalisierte Individualpostwertzeichen.

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Wunderbar, wie sich manche Träume verwirklichen lassen; aber die traditionellen Informationen, die einer Briefmarke zu entnehmen waren, werden damit wohl außer Kurs gesetzt.

 

 

 

Hübsche Zugabe

Was man vergeblich in irgendwelchen Anthologien suchen würde, manchmal entdeckt man es, wenn es einem Autor als Motto dient.

Hier z.B. ein kleines (?)Gelegenheitsgedicht von Alphonse de Lamartine zu Beginn von Patrick Modianos  Roman Fleurs de Ruine:

Une vieille bavarde
Un postillon gris
Un âne qui regarde
La corde d’un puits
Des lys et des roses
Dans un pot de moutarde
Voilà le chemin
Qui mène à Paris

(auf Deutsch etwa

Eine schwatzhafte Alte
Ein Postillon, betrunken
Ein Esel, der nach dem
Brunnenseil schaut
Lilien und Rosen
In einem Senfpott
Da hast du den Weg
Der nach Paris führt)

 

 

 

Abreißgedicht

Diesmal entschied ich mich bei den zum Abreißen ausgehängten Gedichten für einen Text, dessen Bilder ganz deutlich spüren lassen, dass die Worte anderes meinen, als sie sagen:

Rolf Bossert

Gartenlokal

Wir sitzen in Städten im Osten.
Man macht Poesie.
Und während die Schreibfedern rosten,
Erklärt sich der Krug zum Genie.

Ich liebe die Herbstzeitlose,
Das tut ihr so gut.
Ich trag den April in der Hose,
Den September unter dem Hut. 

Mein Auge kullert im Winde.
Die Wimper fällt um.
Ich rede für Taube und Blinde
So um die Dinge herum.

Aus:
Gerhard Csejka (Hrsg.) – Ich stehe auf den Treppen des Winds
bei Schöffling & Co.

Worum es in diesem Gedicht geht, wird deutlicher, sobald man die tragischen Lebensumstände des Autors erfährt (siehe den Wikipediaartikel über Rolf Bossert)

 

 

En passant

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Ganz offensichtlich ist das nicht die Schauseite der Nicolaikirche, aber ein schönes Beispiel dafür, wie sich die Gotik aus dem 14.Jhdt. auf “Tuchfühlung“ mit der Neuzeit behaupten können muss.

Aus berufenem Munde

. . . So langsam erodiert nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch bei den Verantwortlichen die Einsicht in die Notwendigkeit der Schönen Künste. Der kulturelle Konsens einer Gesellschaft beginnt sich aufzulösen. Der Bau eines neuen Parkhauses wird wichtiger als die Aufrechterhaltung des städtischen Orchesters. Musik wird zur schlechtesten Alternative, weil die Bevölkerung erst mal ihr Auto parken möchte, bevor sie daran denkt, eine Konzertkarte zu kaufen. . .

. . . es gibt einen internationalen Trend, der die Künste in Frage stellt – heute vielleicht mehr als früher. Die immer wiederholten Sätze zur Bedeutung der Kunst und Musik für eine Gesellschaft sind kaum mehr als ein Lippenbekenntnis . . .

aus: Kent Nagano – Erwarten Sie Wunder!,  Berlin Verlag

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Who’s afraid of Virginia Woolf

Nach langer Zeit wieder einmal diesen Film angesehen.

Dabei fiel mir auf, dass ich den Titel immer nur als Werbegag genommen hatte, als einen Satz, der durch seine Absurdität für Aufmerksamkeit sorgt, jedenfalls nicht als echte Frage, die jemand stellen könnte.

Aber worin sollte denn das Bedrohungspotential der Virginia Woolf bestehen? Und für wen?

In dem Film taucht die Frage mehrfach, fast leitmotivartig auf. Sie wird dabei wie ein Liedrefrain gesungen, erregt Heiterkeit und Lachen. Es hat den Anschein, als ob sich die Beteiligten an einen gemeinsam erlebten Partyscherz erinnerten.

Der Hintergrund könnte sein, dass der Name der Schriftstellerin symbolisch für hohe gesellschaftliche Ansprüche steht – very highbrow – , gegen die sich die zur vornehmen Ordnung gezwungenen Mitglieder des Lehrkörpers in einer Uni-Party einmal scherzhaft Luft gemacht hätten.

Sprachfetzen an meinem Ohr

. . . dachte an den Berliner Akzent des Hausmeisters S., als ich an dessen Haus vorbei ging, und dass er fast den gleichen Tonfall hat wie Wolf Biermann, bei dem mir dieser Dialekt zum Ausdruck von Toleranz und intellektueller Lebendigkeit geworden ist, den ich mir also gar nicht mehr im Munde eines nationalistisch beschränkten Menschen vorstellen mag – und doch müssen sie die gleiche Sprache gesprochen haben, die Täter und die Opfer.