Das Photo – immer nur ein Ausschnitt

Auch wenn sich heute mit geeigneten Programmen Photos zu einem kontinuierlichen Gesichtsfeld vernetzen lassen, die Photographie zeigt immer weniger, als was ich als Photograph gesehen habe. Was jenseits der Ränder des Photos lag und von der Aufnahme nicht erfasst wurde, bleibt unerbittlich abgeschnitten und ist meist unwiederbringlich verloren.

Deshalb gerät die Suche nach fehlenden Ergänzungen manchmal zu einer Jagd nach Kostbarkeiten: man fühlt sich wie jemand, der aus einer Schatzhöhle weggelaufen ist, ohne das Wichtigste mitzunehmen und ohne je dorthin zurückfinden zu können.

 

 

Gedicht kennenlernen einmal anders

Es ist wie an der Hand genommen und  zum Objekt der Bewunderung geführt zu werden: jemand wählt ein Gedicht aus, löst es aus dem Zusammenhang der üblichen Gedichtsammlungen, präsentiert es uns, allein für sich, in neuem Licht und neuer Bedeutung. Kein Wunder, dass es auf diese Weise so viel mehr an Aufmerksamkeit gewinnt.

Es wäre gut viel nachzudenken, um
von so Verlornem etwas auszusagen,
von jenen langen Kindheit-Nachmittagen,
die so nie wiederkamen – und warum?

Noch mahnt es uns –: vielleicht in einem Regnen,
aber wir wissen nicht mehr was das soll;
nie wieder war das Leben von Begegnen,
von Wiedersehn und Weitergehn so voll

wie damals, da uns nichts geschah als nur
was einem Ding geschieht und einem Tiere:
da lebten wir, wie Menschliches, das Ihre
und wurden bis zum Rande voll Figur.

Und wurden so vereinsamt wie ein Hirt
und so mit großen Fernen überladen
und wie von weit berufen und berührt
und langsam wie ein langer neuer Faden
In jene Bilder-Folgen eingeführt,
in welchen nun zu dauern uns verwirrt.

Aus Rilke – Neue Gedichte
Hier zitiert nach
Markus Gabriel – Warum es die Welt nicht gibt, Ullstein Vlg

 

Verblassender Ruhm

Zwar erzielen ihre Werke immer noch steigende Preise bei Versteigerungen, aber die Namen der großen Meister der frühen Moderne werden seltener genannt.
Z.B Fernand Léger. Es ist ziemlich still um ihn geworden.

Leger_Three_Sisters_1952

Die drei Schwestern, 1952

Ich sehe ihn gern wieder, wenn sich eine Gelegenheit bietet; aber manchen “Feinsinnigen“ ist er zu grob. Das mag damit zusammenhängen, dass er in sozialistischem Elan einfach verständliche Werke für die Werktätigen schuf, was sich als tragisches Missverständnis erweisen sollte; denn die arbeitende Bevölkerung hat den Künstler wohl nie als einen der Ihren aufgenommen.

Merkbuchseite

26613

 

(Farb- u. Bleistift)

abstrakt klärende Vorstudie für ein realistisch ausgearbeitetes Bild
– man sollte sich immer der möglichen Alternativen bewusst sein,
als Malender wie auch als Betrachter.

Von der Nützlichkeit der Bücher

Anwendungen, an die Gutenberg wohl nicht gedacht hat.
Dazu ein Eintrag in Lichtenbergs Sudelbüchern:

“Schreibt man denn Bücher bloß zum Lesen? oder nicht auch zum Unterlegen  im Haushalt?

Gegen eins, das durchgelesen wird, werden Tausende [nur] durchgeblättert, andere Tausend liegen stille, andere wieder werden auf Mauslöcher gepresst, nach Ratzen geworfen, auf anderen wird gestanden*, gesessen, getrommelt, Pfefferkuchen gebacken, mit [wieder] anderen werden Pfeifen angesteckt, hinter dem Fenster damit gestanden.“

Man sollte mal darauf achten, was bei uns alles mit Büchern angestellt wird, in einer Zeit also, in der die Mauselöcher wohl eher selten zu den Problemen gehören, die wir zu bewältigen haben.

*) Z.B. wenn ein etwas klein geratener Politiker ein Photo für sein Wahlkampfplakat benötigt.

Gedankensplitter

Es gibt Texte, z.B. von Benjamin oder von Adorno, bei denen ich mir zum besseren Verständnis einen kundigen Mentor wünschte, der die Lücken meiner gedanklichen Voraussetzungen ergänzen könnte.

Die üblichen Texte, die wir lesen und problemlos begreifen, bestehen häufig nur aus redundanten Sätzen, die also etwas sagen, was uns schon mehr oder weniger vertraut ist oder zumindest unseren Erwartungen entspricht, so dass wir den inhaltlichen “Neuanteil“ ohne Anstrengung, fast unmerklich aufnehmen.

Dagegen wirken Sätze, die überwiegend auf Noch-nicht-Gewusstem beruhen, wie Gleichungen mit beliebig vielen Unbekannten. Man kann sie zwar locker als Ganzes zu lesen versuchen, um eine generelle Tendenz auszumachen; es bleibt aber immer das unbehagliche Gefühl von Unschärfe und  Ungewissheit.

Zwischen Superzeichen und Supinum wäre sein Platz

“. . . Endlich ist Ruh’.
Mehr sagte er nicht, sondern supfte sorgsam das Schaumkäppchen von seinem Bier. . .“*

Er supfte(!)  – schade, dass man so selten auf echte neue Wortschöpfungen stößt,  zumal auf solche, die, wie in diesem Fall,  sofort verständlich sind, ja, fast notwendig erscheinen.

*) Aus Lewitscharoff – Blumenberg,
suhrkamp taschenbuch 4399, p. 208