Lesefrucht

Der Tausch *

Eines Tages traf ein armer Poet an einer Straßenkreuzung einen reichen Dummkopf, und sie unterhielten sich. Doch alles, was sie sagten, enthüllte nichts als ihre Unzufriedenheit.

Da kam der Engel der Straße an ihnen vorüber und legte den beiden Männern die Hände auf die Schultern. Und siehe da, ein Wunder: Jetzt hatten die zwei Männer ihr Hab und Gut getauscht.

Und so gingen sie auseinander. Wie sonderbar aber: Der Poet sah nach und fand in seiner Tasche nichts als trockenen, rieselnden Sand. Und der Dummkopf schloss die Augen und fühlte nichts als ziehende Wolken in seinem Herzen.

*) Aus: Khalil Gibran – Der Wanderer,
erschienen bei Anaconda

Rätselhaftigkeit allein würde diese Lektüre nicht so reizvoll machen;   es braucht auch die Suggestion, der Leser käme der kostbaren Weisheit näher, wenn er nur den Schlüssel fände.

Abreißgedicht

Nur ein kleiner Umweg war nötig, um im Literaturhaus einen Blick auf die Wände mit Abreißgedichten zu werfen. Wenn ich mich nicht täusche, ist der “Umsatz“ schleppender geworden: manches hängt immer noch reichlich da, was ich meine, schon wiederholt dort gelesen zu haben. Und wie in Kunstausstellungen zunehmend häufiger das gezeigt wird, was man so oder so ähnlich schon andern Orts gesehen hat, wird es immer schwerer, in den Gedichten einen besonderen Ton zu entdecken.
Mitgenommen habe ich schließlich:

Volker Sielaff

Formel

Manchmal ist dir nach rührseligem Kitsch.
Aber das sind schwache Momente.

Dann wieder Eis, Kantiges,
das Gegenteil von Handwerkskunst.

Zusammengeschnurrt auf diese eine Formel,
was bedeutet das?

Wir sind Eispickel, unser tägliches Klopfen
gegen den Berg. Gestrandete.

Kugelform, Erlösung,
das Kindsein erledigt sich nicht
von selbst.

Gedankensplitter

Das Musikschaffen J. S. Bachs ist, wie wir wissen, ohne seine tiefe Gläubigkeit und Religionsbezogenheit gar nicht zu denken. Aber es gibt doch viele Musiker, die seine Musik bewegend vortragen, und viele Hörer, die sich von dieser Musik ergreifen lassen, obwohl sie keine gläubigen Christen sind und zum Teil auch aus dem Christentum fern stehenden Kulturkreisen stammen.

Erinnert das nicht an unser Verhalten, wenn wir uns  Früchte schmecken lassen, die die Natur nicht in erster Linie uns zum Genuss hervorbringt?