. . . der Hass gegen das Mehrdeutige weitet sich aus. . .

 

Dieser Satz findet sich in einem Interview der SZ* mit Peter Sloterdijk.

Der Satz lässt aufhorchen und verdient besondere Aufmerksamkeit auch unabhängig von dem speziellen Thema des Artikels.

Denn was wären Humor und Satire ohne Mehrdeutigkeit, wie eingeschränkt wären kreatives Forschen und Experimente ohne den assoziativen Spielraum der Mehrdeutigkeit, und was wäre Kunst noch in einer Welt mit zweifelsfrei zementierten Bedeutungen?

* 17./18. 09.

 

Nulla dies sine linea

Dran bleiben am Schreiben, kein Tag ohne [neue] Zeile!,
das mahnt Walter Benjamin an in seinen 13 Thesen zur Technik des Schriftstellers.*

Bei Elias Canetti lese ich: “Es ist Zeit, mir Dinge wieder mitzuteilen. Ohne dieses Schreiben löse ich mich auf. Ich spüre, wie mein Leben sich in stumpfes trübes Sinnen auflöst, weil ich nicht mehr Dinge über mich aufschreibe. . .“**

Von Michel Butor wird der Satz überliefert: “Chaque mot écrit est une victoire contre la mort.“ Interpretierend übersetzt etwa: Jedes niedergeschriebene Wort ist ein Sieg wider den Tod.

Und selbst von einer Tagebuch schreibenden Klofrau*** lesen wir: “. . . Il ne se passe plus une seule journée sans que j’écrive. Ne pas le faire serait comme de ne pas avoir vécu cette journée. . .“
Es vergeht kein Tag, ohne dass ich schreibe; es nicht zu tun wäre, wie wenn ich den Tag gar nicht gelebt hätte.

Was die vier Beispiele verbindet, ist doch wohl die Besinnung beim Formulieren und Niederschreiben der flüchtigen Gedanken: eine Be-Sinnung also, ohne die alles Erlebte wie nie geschehen wäre.

*   W. Benjamin, Einbahnstraße
**   E. Canetti, Buch gegen den Tod
*** J.P. Didierlaurent, Le liseur du 6h27

 

 

Lesefrucht

“Die Welt sorgt dafür, dass man nicht zu sich gelange, und
nimmt man vielleicht auch kein Interesse an ihr – sie selber
ist viel zu interessant, als dass man die Ruhe fände,
sich so ausführlich über sie zu langweilen,
wie sie es am Ende verdiente.“*

Siegfried Kracauer plädiert hier für die Abkehr von Zerstreuung und für die Bereitschaft zur Langeweile, was bei ihm so viel heißt wie für die Zeit zur kontemplativen Besinnung.

*) zitiert nach Roberto Simanowski: Facebook-Gesellschaft

Über die Jahrhunderte hinweg

120716

Das Bändchen mit Omar Khayyams* Gedichten, 1951 in einem Londoner Archiv erworben, hat mich seitdem stets mit nicht nachlassendem Reiz begleitet.Hier spricht ein Tongefäß zu seinem Töpfer-Schöpfer, und der “altbekannte Saft“ ist natürlich der Wein in der gleichen Mehrsinnigkeit wie in der christlichen Religion.

*) Persischer Dichter, 1048 – 1131