Benn als Vorbeter?

Vielleicht wissen die Kenner, in welchem Zusammenhang das Gedicht entstanden ist – vermutlich gar nicht auf Weihnachten bezogen – aber so wie wir heute auf dieses Fest zugehen, könnten diese Verse ein passendes Stoßgebet sein:

O Gib –

Ach, hin zu deinem Munde,
du Tag vor Feiertag,
Sonnabendrosenstunde,
da man noch hoffen mag!

Der Fächer noch geschlossen,
das Horn noch nicht geleert,
das Licht noch nicht verflossen,
die Lust noch nicht gewährt!

O gib – du, vor Entartung
zu Ich und Weltverwehr,
die bebende Erwartung
der reinen Wiederkehr.

Kein Trennen, kein Verneinen
von Denken und Geschehn;
ein Wesens-Vereinen,
von Oxford und Athen,

kein Hochgefühl von Räumen
und auch Erlösung nicht,
nur Stunden, nur Träumen –
o gib dein Kerzenlicht.

An wen er diese Zeilen wohl gerichtet hat?

DADA im einundzwanzigsten Jahrhundert

Wer heute nostalgisch dem Reiz des Absurden in der DADA-Poesie nachlauschen möchte, wird an unerwarteter Stelle mit neuen Kreationen beschenkt:

Einlege der Batterie

Der Erste Schritt: stecken Sie
die Batterie-Komponente
herein, sehe Abbildung 1.

Der zweite Schritt: ziehen Sie
die Batterie-Komponente aus,
sehe Abbildung 2.


Fernbedienung Verwendung

Der Infrarot-Sender auf
Fernbedienung soll auf den
Empfänger richten, der auf vorne
Seite des Players liegt. Der
Winkelrahmen ist + – 30º, Distanz
inner 3 Meter

 

Achtung

Lassen Sie den Fernbediener nicht nach unten fallen und setzen sie nicht in nasser Umgebung ein. Der Infrarot-Sender auf Fernbedienung darf nicht unten Sonne oder starker Licht stehen. Wenn der Bediener nicht empfindlich ist, wechseln Sie bitte die Batterie. Wechseln Sie die Batterie auf richtige Weise.*

 

Was dem einen die Verzweiflung über die unbrauchbare Gebrauchsanleitung sein mag, kann dem Anderen zur satirischen Erheiterung und Aufhellung des trivialen Alltags dienen.

*) wörtlich der Gebrauchsanleitung eines DVD-Spielers aus (wohlweislich anonymer) fernöstlicher Produktion entnommen

Parallelwelten

Es klingt paradox, aber wir sind nicht immer da, wo wir sind.

Mancher hört Radio bei den täglichen Verrichtungen am Arbeitsplatz, beim Fahren oder z.B. auch beim Joggen. Dabei ist es ein großer Unterschied, ob die Sendungen nur als akustischer Hintergrund “mitlaufen“, also gar nicht bewusst wahrgenommen werden – oder ob sich die Hörer so sehr in die Radiosendung vertiefen, dass sie sich samt ihrer gerade gegenwärtigen Beschäftigung nahezu vergessen.

So etwas kommt oft vor bei Hörspielen, und noch häufiger bei Textlesungen in Serie wie etwa dieser Tage im HR2  das Labyrinth der Träumenden Bücher von Walter Moers: die Hörer, die sich ganz auf diese Texte einlassen und die Erzählfäden von Sendung zu Sendung verfolgen, wechseln gewissermaßen in die Bücherwelt hinüber, bis sie sich wieder ihrer körperlichen Präsenz bewusst werden. Erstaunlich dabei ist, wie viele Handlungen im Zustand der  “Abwesenheit“ halbautomatisch abgewickelt werden können.

Richtig komplex wird das Hin- und Herwechseln, wenn man die verschiedenen und manchmal völlig gegensätzlichen Bereiche einbezieht, die uns jeweils auf ihre eigene Weise “gefangen nehmen“. Übrigens nicht weniger gefährlich als das Handy am Steuer, jedoch durch keine Polizei kontrollierbar.

Gedankensplitter

War nicht früher der Austausch über das, was einen bewegte, universeller?

Jetzt, da es so viel mehr Interessantes und Bewegendes gibt, das unsere Aufmerksamkeit  lockt, wird dessen Nutzung als Kommunikationsmittel (vulgo: als gemeinsamer Gesprächsstoff) immer fragwürdiger: die Lektüre, das zufällige Ansehen eines Films, die Freude an einem seltenen Naturschauspiel oder an einem ungewöhnlichen Konzertereignis, sie alle werden mehr und mehr zu privaten Erlebnissen, die nicht mehr zum Ausgangspunkt gemeinsamer(!) Reflexion taugen.

Die Kunst der Plakatabrisse

Heute auf dem Parkplatz am Supermarkt. Wahrscheinlich ahnen die Leute, die die Plakatwände zu bearbeiten haben, nichts davon, dass sie Materialien und Techniken verwenden, mit denen man noch unlängst Kunst gemacht hat, von der man übrigens nicht sagen kann, sie sei brotlos gewesen.

Aber wer kennt in unseren Tagen noch die Namen Rotella, Villeglé, Hains, Dufrêne? Sie waren die Meister, die die Sensibilität für die Ästhetik* der Décollage nachvollziehbar gemacht haben.

Es schadet nichts, sich einmal unverkrampft darauf einzulassen.

*) Bitte Ästhetik nicht mit Kosmetik zu verwechseln