Als ob ich ihm schon mal begegnet wäre.
In einem Artikel der SZ* lese ich:
“Schwul ist mittlerweile ungefähr so subversiv wie ein Geschäftsordnungsantrag auf einem SPD-Parteitag.“
Das heißt doch wohl: ganz unten auf der Skala der braven Langweiligkeit? – Arme SPD!
* Erinnerung an Werner Fassbinder
in der SZ vom 23. – 25. Mai 2015, p. 13
In Altkanzler Schmidts Memoiren gibt es einige Passagen über sein Liebesleben, willkommener Anlass für allerlei hämische Bemerkungen in der Presse. Vielleicht haben sich da ethisch gefestigte Moralverwalter in ihren rigiden Vorstellungen tatsächlich verletzt gefühlt, oder man hat einfach nur auf Schmidts vermeintliche Schwächen eingedroschen, um sich die auflagensteigernde Wirkung nicht entgehen zu lassen.
Hätte man ihm nicht vielmehr für seine Offenheit dankbar sein sollen? Lässt er uns doch erkennen, dass es überall mit rechten, das heißt mit natürlichen Dingen zugeht; trägt er doch auch dazu bei, dass die Zuschauer der politisch Mächtigen wenigstens im Nachhinein begreifen, was Sache war.
So gesehen erfüllen Memoiren zwei wichtige Bedürfnisse:
die Schreiber können aus der zeitlichen Distanz mit Stolz von Dingen berichten, die zu ihrer Zeit geheim bleiben mussten; und die Leser erfahren zu ihrem Trost, dass auch die Prominenten in ihrem Privatleben mit Problemen ringen, die sie nicht lösen.
In einem satirischen Text beschreibt Patrick Süsskind, wie jemand vor seiner Bücherwand steht, ein Buch herausgreift, mit Interesse und wachsender Spannung darin liest, bis er schließlich erkennen muss, dass er das Buch schon längst gelesen, den Inhalt aber total vergessen hatte.
Leider sind mir ähnliche Erfahrungen nicht fremd, und ich weiß von einigen Menschen in meinem Bekanntenkreis, dass es ihnen ähnlich geht: ein Großteil dessen, was wir lesen, sinkt früher oder später ins Vergessen.
Aber wer würde deshalb auf Bücher und Lektüre ganz verzichten wollen? Beim Lesen nimmt man ein geistiges Lebensmittel zu sich, und diese “Nahrungsaufnahme“ gehört für viele ganz selbstverständlich zum Alltag.
Trotzdem kann es leicht geschehen, dass ich in Verlegenheit gerate, wenn man mich fragt, was ich lese. Aber gibt man mir nur etwas Zeit zur Rückbesinnung, kommt schnell eine ganze Liste zusammen, z.B. dies aus den letzten beiden Monaten:
. . .
Pynchon – Bleeding Edge – Penguin Books
Jaeger – Wanderers Verstummen … – K&N
Nabokov – Erzählungen – Rowohlt
Mauvignier – Autour du Monde – Minuit
Schlaffer – Geistersprache – Hanser
Houellebecq – La Carte et le Territoire – J’AI LU
Deinhard – Bedeutung u. Ausdruck – Luchterhand
Modiano – Fleurs de Ruine – Ed. Du Seuil
Seethaler – Der Trafikant – Kein & Aber
Rufin – Immortelle randonnée – Gallimard
Tesson – S’Abandonner À Vivre – Gallimard
. . .
Es gibt Leser, die über ihre Lektüre tagebuchartig Buch führen.
Das mag helfen, wenn man sich an früher gelesene Texte besser erinnern können will oder aus bestimmten Gründern sogar muss.
Was aber, wenn man das Lesen mehr wie ein Durchstreifen fremder Gegenden versteht?
Mehr darüber an einem anderen Tag.
Sieh da, ein fremdsprachlicher Text an der Pinwand, dachte ich zunächst und empfand das englische Gedicht schlicht als Bereicherung, als Zeichen grenzüberschreitender Freiheit.
Aber, at second thought: es hätte nicht leicht ein russisches oder arabisches Gedicht an dieser Stelle hängen können.
Les Murray
The Meaning of Existence
Everything except language
knows the meaning of existence.
Trees, planets, rivers, time
know nothing else. They express it
moment by moment as the universe.
Even this fool of a body
lives it in part, and would
have full dignity within it
but for the ignorant freedom
of my talking mind
aus: Les Murray, Gedichte groß wie Photos, Edition Rugerup 2006