Lesefrucht

Thomas Kunst

Es wäre leicht zu zeigen, wie die besten
Gedichte hier verwahrlosen, gelassen
Im Untergrund in keine Gruppe passen:
Es hausen selbst in ihren kleinsten Resten
Soviel Magie und Tanz, dass sie gehasst
Und unbeteiligt ausgesondert werden:
Ersatzteillager sind, niemand gefährden,
Nicht mal verstummen lassen könnten fast
Hat es den Anschein hier im Land, als hätte
Bemühter Bildungslack die Herrschaft inne,
Verkümmertes Gedröhn, kein Sprachverstehen,
Nur Anempfundenheit und Daseinsglätte,
Doch niemals Poesie in meinem Sinne:
In zwanzig Jahren wird man weitersehen.

(für Ulrich Zieger)

aus: Der Literaturbote 107/108

Eine Art Bußpredigt gegen alles lau Angepasste.
“Jawohl, gib’s ihnen“,  möchte der Leser sagen,
zögert dann aber, ungewiss, ob er sich nicht schon selbst der Lauheit schuldig gemacht hat.

Gedankensplitter

Es gibt Blicke und Momente, die man nie vergisst. Warum aber sind wir nicht fähig, solche Momente sogleich in ihrer besonderen Bedeutung für uns zu erkennen; warum muss sich ihre Wichtigkeit fast immer erst viel später herausstellen, wenn ein genaueres Hinsehen nicht mehr möglich ist?

Entscheidende Fragen

Zu Beginn eines beachtlichen Films* von Hans Steinbichler stellt sich die Hauptdarstellerin in Gedanken drei für sie wesentliche Fragen:

–  Hast du Sex?  –  Bist du mobil? –  Hast du Familie?

Bei der ersten Begegnung mit dem Film wirkten die Fragen ganz überzeugend wichtig – im Nachhinein jedoch schienen sie mir mehr einer modischen Erwartungshaltung zu genügen,  als dass sie für eine zeitlos gültige Glücksformel  gelten könnten.

Wie wäre es statt dessen mit:

–   Kannst du mit dir allein sein?  –  Entscheidest du, was du arbeitest?  –  Hast du eine Zukunftsperspektive?

*) Hierankel, 2004

 

 

 

 

 

Glaubensfrage

Dürfen Kreationisten eigentlich Auto fahren?

In der biblischen Schöpfungsgeschichte ist das Automobil meines Wissens nicht vorgesehen – nicht einmal  von Ochsenkarren war  die Rede. als der  Schöpfer am siebten Tag sein Werk betrachtete. Und überhaupt: war nicht schon die Erfindung des Rades ein Werk des Teufels?

“Warte, es liegt mir auf der Zunge . . .“

Es ist eine Abart der Qualen des Tantalus, der, umgeben von reichlich Speise und Trank, Hunger und Durst leiden muss, weil alles vor ihm zurückweicht, wonach er greift.

Man weiß zwar:  der gesuchte Name, das fehlende Wort – sie sind nicht gelöscht, sie sind irgendwo in den grauen Zellen gespeichert und fallen einem schon noch ein – bloß eben nicht zur rechten Zeit.

Lew Lossjew

Namen im Alter: Tretminen
im Gespräch. Nicht verrückt
ist die Welt, stumm nur
und namenlos–verzwickt.

Wie die Stadt N: da sitzt
NN, der dies schreibt,
am Fenster und sieht
nur Nebel weit und breit.

New Hampshire, 2004, aus dem Russischen von Kay Borowsky

Quelle: NZZ vom 18./19.Dez. 04

Im Märzen der Bauer sein Rösslein einspannt . . .

Ja, früher! Da sah die Landwirtschaft noch ganz anders aus, da fuhr man noch zum Düngen mit einem Jauchefass auf dem Leiterwagen; aber jetzt breitet da ein seltsamer Vogel seine Schwingen aus und platziert durch zig Düsen furchengenau die Gülle unter Hochdruck  auf das Ackerfeld.6413Ohne den dazu gehörigen Duft kann die Betrachtung des erstaunlich wendigen Geräts sogar Spaß machen – jedenfalls (vorläufig noch!) ein ungewohntes Schauspiel.

 

Gedankensplitter

Was uns in der Ferne unwiderstehlich verlockend erscheint, gerät nicht selten zur Ent-täuschung, sobald die ersehnte Nähe erreicht ist.

Ähnlich die frustrierende Schwierigkeit, die persönliche Nähe eines/einer Prominenten sinnvoll zu nutzen und zu einer beiderseits erinnernswerten Begegnung zu machen.

 

 

Kein Aprilscherz

Schon mal was von einer Grabsteinrüttelmaschine gehört? –
Ich auch nicht.

Als neulich der Begriff im Radio erwähnt wurde,  ging es um Beispiele für übertriebene Sicherheitsvorschriften, die aus rein juristischen Gründen erfüllt werden müssen, obwohl sie der praktischen Vernunft widersprechen.

Unter einer Grabsteinrüttelmaschine stellt man sich vielleicht ein monströses Ungetüm vor, das womöglich tonnenschwere Steinplatten beliebig anheben und durchrütteln könnte; aber tatsächlich handelt es sich um ein relativ kleines Gerät, um die Standfestigkeit von Grabsteinen zu prüfen:

4413

Interessanter Artikel dazu von Michael Schwager unter
http://www.noz.de/lokales/49066645/kippgefahr-stadt-osnabrueck-testet-grabsteine

Die internationale Politik – welch ein absurdes Theater

Es bietet unerschöpfliche  Vorlagen für geniale Satire, die freilich nicht wirksam in das Geschehen eingreifen kann, aber immerhin die hilflosen Zuschauer (noch!) erheitert,

z.B. Touché*:

3413

Interviewer: “Geht Nordkorea  auf den Westen zu?“
Staatschef: “. . . bieten wir an, unseren nächsten Atombombenversuch auf Zypern durchzuführen . . .“

*) http://de.wikipedia.org/wiki/Touché_(Comic)