Lesefrucht

Peter Weber – Bahnhofsprosa*

Was stellt man sich unter einem solchen Titel vor?
Jedenfalls nicht einen so poetisch freien Text, wie ihn diese Lektüre bietet: ein traumhaftes Fortspinnen der Gedankenfäden, wobei stets ihre Ableitung aus sinnlicher Erfahrung und die Bezugnahme auf konkrete Ereignisse spürbar bleibt.

Die zauberhafte Verwandlung, der der Autor die uns gewohnte Welt unterzieht, ist an jeder Stelle des Buches spürbar, zum Beispiel, mitten herausgegriffen aus dem Kapitel Fernweh:

. . Wir pflanzen ein Paradieswäldchen, plündern die Baumschulen, verwenden keine Palmen wie einst, sondern kleine Tannen in Töpfen. Der Wald wird eingezäunt. Wir entlassen Kleinwild, Stadtfüchse, Singvögel und Luchse, setzen einige unserer eilfertigsten Kameraleute aus, frühere Kriegsberichterstatter, sie zeichnen die Verwilderung fortlaufend auf. Die Bilder werden direkt auf alle Bildschirme übertragen, so können wir das Halleninnere neu ergründen. Die Landschaftsgärtner sind die begehrtesten Objekte des Hoffernsehens, Passanten und Publikum wünschen sie bei der Arbeit zu sehen. In der Mitte des Waldes sparen sie eine Lichtung aus, dort errichten Holzbauer und die besten Zuckerbäcker eine große Torte, glasieren einen süßen Gipfel, ein Granithorn, das ganz einfach “Öffentlichkeit“ genannt wird. Wir möchten dieses Wort häufiger verwendet sehen . . .

*) 2002 bei Suhrkamp erschienen

Verbotene Bücher*

Seit jeher missbrauchen die Herrschenden ihre Macht, um die von ihnen Abhängigen unaufgeklärt und unmündig zu halten. Welche Rolle dabei immer wieder das Verbieten und Verbrennen von Büchern spielt, hat Werner Fuld an vielen historischen Fällen anschaulich gemacht. Er zeigt das Wüten banausischer Zensur und brutaler Repression, gleichzeitig aber auch die Vergeblichkeit dieser kulturfeindlichen Maßnahmen, weil sich die Gedanken der Aufklärung und des Protests nie haben ausmerzen lassen.

Mit Befriedigung werden die Leser erkennen, gegen welche unsäglichen Borniertheiten die persönlichen Rechte erkämpft wurden, die wir heute ganz selbstverständlich für uns in Anspruch nehmen. Vielleicht geht ihnen dabei aber auch auf, dass unsere relative Freiheit keineswegs als endgültig gesichert gelten kann, sondern weiterhin aktiven Schutz benötigt.

So gerne man die Grundidee des Buches bejaht und jegliche Zensur ablehnt, so sicher stößt man auf  einen systemimmanenten Widerspruch: darf auch all das ungehindert veröffentlicht (und beworben) werden, was die gewonnene Freiheit beschränken oder beseitigen will? Eine schlüssige Antwort auf diese Frage musste wohl im Rahmen dieses Werks unbeantwortet bleiben.

*) Werner Fuld – Das Buch der verbotenen Bücher
bei Galiani, Berlin, 2012

 

Schablonentechnik

So begegnen wir wohl künftig noch öfter dem seltsam kleinwüchsigen Gangster:

Ob das vielleicht dieser Vater war?

Entsetzt blickte der Geigenlehrer auf die Maschinenpistole, als der Schüler seinen Geigenkasten geöffnet hatte. “Ach du lieber Gott“, sagte der Kleine, “jetzt steht der arme Papa mit der Geige in der Bank.“

Eisernes Gesetz der Gewohnheit?

Zugegeben, mir liegt kein gesichertes Umfrageergebnis vor, und ich kann mich auch nur auf meine persönlichen Beobachtungen beziehen; aber mal ehrlich: wenn von Kunst die Rede ist, scheint noch immer die Vorstellung zu dominieren, das seien “schöne“ Bilder, die zum Schmuck an leere Wände gehängt werden können.

Was  es dagegen in zeitgenössischen Museen oder bei den Documentas zu sehen gibt, wird zwar durchaus interessiert wahrgenommen, teils bestaunt, teils mit Kopfschütteln quittiert; aber – so fragen sich viele – sollten etwa diese unbegreiflichen Erscheinungen tatsächlich etwas mit “Kunst“ zu tun haben?

Diese und ähnliche Fragen werden glücklicherweise ungelöst bleiben: sie sollen den zugehörigen Bereich unseres reflektierenden Bewusstseins auch in Zukunft in Spannung halten.

In Anonymität verloren

Wer kennt schon den Designer seines Autos? Die meisten  Menschen wissen nicht, wer der Architekt  des Hauses ist oder war, in dem sie leben. Und von den vielen praktischen Dingen, die wir täglich benutzen, ist uns nicht bewusst, dass auch sie alle erst einmal auf einem Reißbrett von einer anfänglichen Skizze zur Produktionsreife entwickelt werden mussten.

Zuvor existierten sie als Vorstellung im Kopf eines Menschen, der sie erdacht hat – ein Vorgang, von dem wir ebenfalls fast keine Ahnung haben, wie er vor sich geht.

 

 

 

 

Ach, und morgen schon wieder vergessen

Was für eine fabelhafte Bisoziation: Merkels Sparforderungen an die Griechen mit der Circe-Episode aus der Odyssee in Verbindung zu bringen!

Wie einst jene mythische Zauberin mit ihren magischen Künsten verwandelt hier die klassisch gewandete Dame die Männer in Spar-Schweine.

Erstaunlich, dass ein Zeichner sogar heute noch mit einem Publikum rechnen kann, das die Anspielungen versteht.

aus : SZ vom 25.Juni, 2012, S.4

Koexistenz in der Schirn

Gleichzeitig stellen dort gerade Jeff Coons und Michael Riedel aus. In einer Frühkritik des hr2 rezensierte Rudolf Schmitz die Riedel-Ausstellung.

Der Moderator gab zu bedenken. “Gleichzeitig mit Jeff Coons? Da säuft der doch ab?!“
Dazu Schmitz: “Nein, der säuft nicht ab. – Da sitzt die Fliege im Bernstein, und nebenan tanzt der Zirkuselefant.“