Wir verändern sich

Ungewöhnlich früh am Morgen läutete mein Telephon – mein Name war offenbar nicht, was mein Gesprächspartner hören wollte; denn es sprach eine kräftige Männerstimme zu mir und sagte “Entschuldigung, wir haben sich verwählt“.

Ein andermal versprach mir jemand Abhilfe bei einem technischen Problem und kündigte fröhlich an “Wie melden sich“.

Das unflektierte Reflexivpronomen fällt uns auf – noch(!) – aber alle Wandlungen unserer Sprache haben sich ja wohl immer erst als kleine Irritationen eingeschlichen, ehe sie Standard wurden.

Lesefrucht

Wer Herta Müllers Collagenbuch* aufschlägt, ist zunächst mehr Betrachter als Leser. Wie mit bunten Bruchstücken zu Mauern aufgetürmt fügen sich die collagierten Sprachbausteine zusammen.  Dass es sich dabei um lesbare Texte handelt,  wird durch kleine ikonische Elemente betont, die hier nach Art von Illustrationen zwischen gedruckten Texten beigefügt sind. Aber erst auf den zweiten Blick beginnt der Leser, dem Wortsinn der Zeilen zu folgen und den surrealistisch-assoziativen Beziehungen nachzuspüren. Dann ergeben sich  – in gewohnte Sprache rückübersetzt – kleine Gedichte wie z.B.

Und nichts gerät
Im Alphabet der Angst
so hundeköpfig plump
und gleichzeitig eidechsig zart
wie die Gegenwart

*) Herta Müller – Die Blassen Herren mit den Mokkatassen
erschienen bei Hanser

Textverständlichkeit allein genügt nicht

Auch wenn man mal die abstrusen Begleitpapiere zu elektronischen Geräten aus Fernost beiseite lässt, es gibt eine unvermeidliche Unvollständigkeit aller Gebrauchsanweisungen:

fast immer stellt sich heraus, dass zusätzliches Wissen, Rückgriff auf sachdienliche Erfahrungen oder Übung in bestimmten Fertigkeiten notwendig sind, um das angestrebte Ergebnis zu erzielen.

Deshalb sind auch Notenpartituren oder Drehbücher keine Garantie dafür, dass bei der Realisierung Aufführungen zustande kommen, die den ursprünglichen Vorstellungen ihrer Autoren entsprechen.

Schon das laute Vorlesen eines Textes macht deutlich, welche Vielfalt an sinnverändernden, leider auch sinnentstellenden Interpretationen möglich ist, und wieviel Vorverständnis der Vorlesende mitbringen muss.

 

 

Ach, wie täuschbar doch unsere Augen sind!

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Hut ab vor dem Können der Spray-Künstler, die im Dienst der e.nwag die Wände von Transformator- und anderen Betriebsgebäuden im Wetzlarer Stadtgebiet gestalten.

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Selbst trotz der störenden Unterbrechungen der bildtragenden Wände bleibt die Illusion erhalten.

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Das freundliche Leuchten aus dem Walde wird leider durch die
unmittelbar anschließende bunte Bergwelt um seine Wirkung gebracht. Überhaupt wäre an diesem und anderen Gebäuden weniger mehr gewesen.

Immerhin scheinen diese gelungenen Arbeiten die Wände vor ungekonnten Vandalismen zu schützen.

“Kunst Hassen“

Eine lohnende Lektüre*: die Autorin berührt viele Fragen, die nicht oft genug gestellt werden können, und bringt viel Kontroverses zur Sprache.

Zutiefst geht es um den schwer lösbaren Gegensatz in der Kunstwahrnehmung: denn man wünscht sich eine Kunsterfahrung, die nicht durch Museumsleute und Galeristen vermittelt wird – eben einen möglichst freien und direkten Zugang. Andererseits sind für einen ergiebigen Umgang mit Kunst Vorkenntnisse nötig, die man sich nicht ohne Mühe aneignen kann.

Nach wie vor steht also dem We-don’t-need-no-education-Anspruch das Gefühl der Ausgeschlossenheit der weniger Gebildeten gegenüber.

Manches in dem Text fordert die Diskussion heraus; aber volle Zustimmung der Leser wird wahrscheinlich das Kapitel über das Aufsichtspersonal der Museen finden.

*) Nicole Zepter – Kunst hassen, eine enttäuschte Liebe

 

 

 

Lesefrucht

Wie schön, wenn ein Text gleich mit einer zitierbaren Lebensweisheit beginnt, z.B. Le Confessionnal*.

Der Autor führt uns zu Anfang zwei junge Leute in einer Caféteria vor, die überlegen, was sie bestellen wollen, und fährt dann kommentierend fort:

Tout cela n’avait pas d’importance, évidemment. Et pourtant cela en prendrait peut-être beaucoup un jour. On ne sait jamais. On vit des minutes qui paraissent être comme les autres, sans s’en rendre comte, puis, des années plus tard, parfois devenu vieux, on s’aperçoit que le reste de sa vie en avait dépendu.

(Das war natürlich alles belanglos. Aber, wer weiß, es konnte vielleicht eines Tages noch richtig Bedeutung gewinnen. Manche Minuten durchlebt man, die kommen einem, ohne dass man darüber nachdenkt, wie alle anderen vor, und dann, Jahre später, manchmal erst im Alter, merkt man, dass der ganze weitere Verlauf des Lebens von ihnen abhing.)

*) Georges Simenon
(einer seiner Romane ohne Maigret)