Landschaftsbild

Auch wenn man von der Notwendigkeit der Technik überzeugt ist, muss man so einen Mast nicht für schön halten.

Ich fühle mich an Kurt Kusenbergs Erzählung erinnert: zwei Zauberer, die sich spinnefeind sind, bekämpfen sich nicht mit den üblichen Kampfmitteln, sondern verwüsten die gegnerische Landschaft durch Platzierung von rauchenden Schloten, finsteren Fabrikanlagen und hoch aufragenden Gasometern.

Windkraftanlagen haben immerhin den Vorteil einer eleganten Gestaltung (form follows function); aber ich behalte es mir vor, schmerzlich zusammenzuzucken, wenn vor einem einsam gelegenen, von Technik unberührtem Waldrand plötzlich ein weiterer Windradträger errichtet werden soll.

Lesefrucht

Nach langer Zeit wieder einmal in Jacques Préverts Parole gestöbert:

LE GRAND HOMME

Chez un tailleur de pierre
où je l’ai rencontré
il faisait prendre ses mesures
pour la postérité

(dem Sinne nach:

Bei einem Bildhauer,
wo ich ihm begegnete,
ließ er Maß nehmen von sich
für die Nachwelt)

Schlüssel abhanden gekommen

(Holzschnitt, ca. 12 x 9 cm, anonym, 16.Jhd.)

Blatt aus der Serie
Les songes drolâtiques de Rabelais
(frei übers.: Die schrulligen Phantasien des Rabelais)

Vielleicht macht uns der Anblick der kuriosen Zeichnung aufmerksam: ist das womöglich Surrealismus? die dargestellten Gegenstände und einige Details der Ausführung verweisen aber  auf eine längst vergangene Zeit.

Man kann den künstlerischen Rang der Arbeit an sich würdigen; aber es bleibt die frustrierende Ungewissheit über die Verhältnisse, auf die die Graphik Bezug nimmt.

Nur naive Betrachter würden das dem mangelnden Können des Zeichners anlasten. Aber was uns zum Verständnis fehlt, ist vielmehr die, manchmal sogar für immer verloren gegangene Kenntnis der Lebensumstände zur Entstehungszeit der Arbeit.

Hier nun ein Beispiel aus dem Jahr 2000, um zu zeigen, wie viel ein Betrachter wissen muss, um eine Darstellung “lesen“ zu können, die sich nicht automatisch von selbst erklärt:

Gerechtigkeit ist in der Natur nicht vorgesehen.

Gleichviel, ob es sich nun um Kontingenz oder um den Zufall  handelt, wir wissen ja alle, dass sich das Wetter jeglicher Berechenbarkeit entzieht. Woher kommt es dann aber, dass uns ein verregneter Sommer innerlich empört, so als ob man uns um etwas gebracht hätte, auf das wir eigentlich Anspruch haben?

Besonders ärgerlich, wenn uns rückblickend unsere Meteorologen in statistischem Gleichmut versichern, es habe sich alles im Rahmen der üblichen Schwankungen gehalten, es wäre also ein normaler Sommer gewesen.

 

Sich die Zeit nehmen

Was an den Wänden hängt, wird zwar auch nicht immer bewusst wahrgenommen; aber immerhin gleiten oft die Blicke über das, was gezeigt wird.

Für Bilder in Büchern dagegen braucht es einen Anlass, um sie anzuschauen: die Bücher wollen aus dem Regal genommen, aus ihren Schubern gezogen werden. Man sucht die gewünschten Seiten, man schlägt sie auf und blättert hin und her, um ein Bild mit einem anderen zu vergleichen. So etwas geschieht nicht ohne Aufmerksamkeit und macht das Anschauen bewusster.

Wenn die Intervalle zwischen den “Betrachtungsveranstaltungen” lange genug dauern, finden auf diesem Wege Wiederbegegnungen, ja manchmal sogar echte Entdeckungen statt, an denen man ablesen kann, wie man sich selbst in seinen Anschauungen verändert hat.

(Farbholzstich, 82 x 75 mm)

Hans Martin Erhardt, Blatt 2 aus der Folge
12 paysages cévenols, manus press, 1966

In Geist und Vorstellungskraft weit voraus

 

 

 

 

Globus des Kartographen Waldseemüller von 1507

Wie kümmerlich mag heutigen Betrachtern das Papierbällchen (Durchmesser 11 cm) vorkommen, mit dem man vor 500 Jahren die Kugelform unserer Welt darstellte – und wie kühn und geradezu verwegen muss damals dieses Modell erschienen sein, das doch durch fast nichts aus der naiven Anschauung der sichtbaren Welt bestätigt wurde.

Heute bekommen schon unsere Kinder eine, wenn auch noch so vage Vorstellung vom “Erdball“, sie lernen den Umgang mit dem Globus, sie haben die Möglichkeit, extraterrestrische Photos vom “blauen Planeten“ zu sehen, sie nutzen vielleicht schon Googles Blick auf unsere Welt und spielen mit Träumen von astronautischen Abenteuern; aber ich fürchte:  ihr Staunen bleibt an der Oberfläche, denn das ist alles nicht so wichtig.

So what?!

Lesefrucht

Peter Weber – Bahnhofsprosa*

Was stellt man sich unter einem solchen Titel vor?
Jedenfalls nicht einen so poetisch freien Text, wie ihn diese Lektüre bietet: ein traumhaftes Fortspinnen der Gedankenfäden, wobei stets ihre Ableitung aus sinnlicher Erfahrung und die Bezugnahme auf konkrete Ereignisse spürbar bleibt.

Die zauberhafte Verwandlung, der der Autor die uns gewohnte Welt unterzieht, ist an jeder Stelle des Buches spürbar, zum Beispiel, mitten herausgegriffen aus dem Kapitel Fernweh:

. . Wir pflanzen ein Paradieswäldchen, plündern die Baumschulen, verwenden keine Palmen wie einst, sondern kleine Tannen in Töpfen. Der Wald wird eingezäunt. Wir entlassen Kleinwild, Stadtfüchse, Singvögel und Luchse, setzen einige unserer eilfertigsten Kameraleute aus, frühere Kriegsberichterstatter, sie zeichnen die Verwilderung fortlaufend auf. Die Bilder werden direkt auf alle Bildschirme übertragen, so können wir das Halleninnere neu ergründen. Die Landschaftsgärtner sind die begehrtesten Objekte des Hoffernsehens, Passanten und Publikum wünschen sie bei der Arbeit zu sehen. In der Mitte des Waldes sparen sie eine Lichtung aus, dort errichten Holzbauer und die besten Zuckerbäcker eine große Torte, glasieren einen süßen Gipfel, ein Granithorn, das ganz einfach “Öffentlichkeit“ genannt wird. Wir möchten dieses Wort häufiger verwendet sehen . . .

*) 2002 bei Suhrkamp erschienen